Deutschlands Alte suchen neue Wege

Ein Einblick in eine veränderte Welt. Von Julia Rathcke

Sie bewegen sich im Internet, nutzen Singlebörsen und organisieren ihr Leben in der Alten-WG: Deutschlands Senioren werden einer neuen Studie zufolge immer aktiver – und auch einflussreicher.

Es ist ein schönes Bild. Warmes Licht scheint durch die großen Fenster der Gründerzeitvilla im beschaulichen Ort Wedel im Kreis Pinneberg. Neun Rentner leben in dem ehemaligen, schmucken Hotel in sechs Wohnungen auf vier Etagen, seit 41 Jahren. Neun Freunde kochen, spielen und feiern auf zusätzlich 150 Quadratmetern im Erdgeschoss gemeinsam – bis dass der Tod sie scheidet. Die Elbburg in Wedel ist ein schönes Bild. Aber eines, das selten der Realität entspricht.

Das Statistische Jahrbuch, das das gesellschaftliche Bild Deutschlands Jahr für Jahr anhand von Zahlen, Daten und Fakten zeichnet, hat sich 2018 einen Schwerpunkt vorgenommen: die Generation 65 plus. Den neuen Statistiken zufolge, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurden, machen Senioren mittlerweile ein Fünftel aller Menschen in Deutschland aus. 2030 wird bereits jeder Vierte 65 Jahre oder älter sein, 2060 jeder Dritte.

Die Gesellschaft altert, sagen die Statistiker, aber: Sie wird auch aktiver. Immer häufiger sind Ältere erwerbstätig. Der Anteil der 65- bis 69-Jährigen, die noch arbeiten, hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. 2017 arbeiteten 16,1 Prozent von ihnen, 2007 waren es nur 7,1 Prozent. Da es für Selbstständige kein festes Renteneintrittsalter gibt, sind sie unter den älteren Arbeitenden besonders stark vertreten. 2017 war rund ein Drittel der Erwerbstätigen zwischen 65 und 74 selbstständig.

Aktiver sind Ältere auch im Internet: Die Hälfte aller über 65-Jährigen ist regelmäßig online, fast alle von ihnen nutzen E-Mails, jeder Fünfte ist auch in sozialen Netzwerken unterwegs. „Ältere Menschen sind heute so aktiv wie nie“, sagte der Leiter des Statistischen Bundesamtes, Georg Thiel, am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung aktueller Zahlen zur Generation ab 65.

Die Generation 65 plus dominiert wie nie die deutsche Gesellschaft, an der sie so lange wie möglich teilhaben will. Die über 60-Jährigen stellten bei der Bundestagswahl 2017 mit 22,4 Millionen Personen bereits mehr als ein Drittel (36 Prozent) der Wahlberechtigten und damit mehr als doppelt so viele wie die Generation der unter 30-Jährigen. Zudem gehen die Älteren regelmäßiger zur Wahl.

„Aktiv im Alter“ – das klang lange wie ein Werbeslogan für Wassergymnastik oder Gelenksalbe aus der Apotheke. „Aktiv im Alter“ scheint allerdings vom Wunsch zur deutschen Wirklichkeit geworden zu sein. Längst bietet das Internet Singlebörsen für Senioren, längst planen Reiseveranstalter Erlebnisurlaube für Ältere, längst zahlen Rentner Spezialpreise in jedem großen Freizeitpark. Wie will die Generation 65 plus leben – das ist die eine Zukunftsfrage. Aber auch: wo? Denn wenn der Lebensabend immer vielfältiger wird, dann wächst auch der Bedarf an Altenheim-Alternativen.

Es müsste noch andere Möglichkeiten geben als Heim oder Heimat, dachte sich Yvonne Kuska schon vor 20 Jahren. Als Berufsbetreuerin beim Amtsgericht Hildesheim zählten schon damals viele Senioren zu ihren Fällen. Einer ging ihr nicht aus dem Kopf. „Ich will raus aus dem Heim“, sagte ihr eine 96-Jährige damals. Sie aß nicht mehr, sie sprach nicht mehr, hatte keine Angehörigen. Mit Händen und Füßen wehrte sich die Seniorin, so unglücklich war sie, dass sie versuchte, ihren eigenen Tod irgendwie zu beschleunigen. Eine Alternative hatte Kuska für die Dame damals nicht, besuchte sie aber, sooft es ging. Als sie verstarb, vererbte die Seniorin ihrer Betreuerin alles, was sie noch besaß.

20 Jahre später steht Yvonne Kuska in einer Wohnung in Hildesheim vor einer eleganten Antikkommode und sagt: „Na ja, ein Stück von der Dame ist dann doch mit eingezogen.“ Sie meint die Senioren-WG, die sie im Frühjahr 2017 gegründet hat. Jahrelange Vorbereitung, viele Stunden Renovierungsstress und 25 000 Euro hat die 58-Jährige in das Projekt gesteckt. Auch einen Verein hat sie gegründet: Seniorenservice e.V. „Manche sagen, ich sei verrückt, manche nennen mich Mutter Theresa“, sagt Kuska kopfschüttelnd und lacht.

Warum sie all das tut, ehrenamtlich, nach Feierabend und noch dazu für fremde Menschen? „Weil ich selbst hier irgendwann leben will“, sagt Kuska. Eher auf der Straße würde sie leben wollen, als später in ein Heim zu gehen. Zu viel hätte sie schon erlebt – von Eimern voller Windeln, die tagelang nicht geleert würden, bis hin zur sozialen Totalisolation, weil oft kein reger Austausch mehr stattfindet oder stattfinden kann unter den Bewohnern. „Bei einem Einzug in ein Altenheim endet oft das Leben“, sagt sie, „hier in der WG geht es weiter.“

Auf 170 Quadratmetern leben vier Frauen zwischen Mitte 60 und Ende 70, demnächst kommt noch ein Mann dazu. Dass dies mal eine Arztpraxis war, hat nicht nur den Vorteil, dass es einen Fahrstuhl und eine Apotheke im Erdgeschoss gibt. Auch das Inventar hat Yvonne Kuska teilweise in den Räumen gelassen. So hat jedes Zimmer ein Waschbecken, einen großen Einbauschrank und sogar eine Klimaanlage. Hotelatmosphäre kommt aber nur in Teilen auf. Die Bewohnerinnen können – anders als in Heimen – ausschlafen, werden aber nicht bedient. Bis auf eine Bewohnerin, die bettlägerig ist und von einem Pflegedienst versorgt wird.

Ansonsten herrscht WG-Alltags-Stimmung. Es gibt die, die immer schlecht drauf ist; die, die meist auf dem Balkon raucht, und die, die vor allem aus finanziellen Gründen das kleinste Zimmer bewohnt. Sie heißt Zakye Gülseren Störmer, aber alle nennen sie Rosi, weil ihr Name auf Türkisch Rose bedeutet. Rosi ist 66 Jahre alt und im März eingezogen, erst mit ihrem Mann, 71, der aber seit der Demenzdiagnose in einer Pflegeeinrichtung lebt. Aus ihrer Wohnung in einem Dorf in der Nähe mussten sie raus, zu stark war der Schimmelbefall. Rosis größter Wunsch ist eine eigene Wohnung in der Nähe ihrer Kinder und Enkel, aber die kann sie sich nicht leisten.

Die Frage, wie und wo Menschen alt werden wollen, ist längst auch eine Kostenfrage. Zwar haben die amtlichen Statistiker aus Wiesbaden herausgefunden, dass der Spaß an der Arbeit mit großem Abstand der häufigste Grund ist, warum Menschen im Rentenalter noch arbeiten. Allerdings gaben auch immerhin knapp 40 Prozent der arbeitenden Senioren an, aus finanziellen Gründen ihren Job nicht aufgeben zu wollen – oder im Rentenalter einen neuen anzufangen.

Die neue Aktivität, sie hat auch mit neuen Herausforderungen zu tun, die das Alter heute mit sich bringt. Großfamilien im ursprünglichen Sinne werden immer seltener, Familienmitglieder verteilen sich geografisch immer häufiger – aus beruflichen oder finanziellen Gründen. Neue Wohnkonzepte, wie die Alten-WG in Hildesheim, sind auch darauf eine Antwort.

In der Türkei, sagt Rosi in Hildesheim, liefe das immer noch so: Wird ein Familienmitglied krank, wird es in der Familie gepflegt, sie leben zusammen, sie halten zusammen, alle unter einem Dach. Ihre Kinder aber hätten selbst nicht genug Platz, und sie als Fabrikarbeiterin mit ihrem Mann, Taxifahrer, nur eine winzige Rente. In der Senioren-WG zahlt jeder 620 Euro im Monat inklusive allem und 120 Euro zusätzlich für sogenannte Präsenzkräfte, die täglich vorbeischauen, putzen, kochen, waschen.

Die großen Portale für WG-Suchen haben den Bedarf seit geraumer Zeit erkannt. Der Betreiber der Seite „wg-gesucht.de“ hat eigens für Senioren eine Seite eingerichtet namens „senioren-wg-finden.de“. „Das Portal wird gut angenommen und genutzt“, heißt es von einem Sprecher, „wir haben monatlich etwa 10 000 Besucher.“ Besonders in Großstädten könnten Senioren die steigenden Mieten nicht mehr zahlen und suchten Alternativen. „Wir sehen auch oft, dass sich Senioren zusammenfinden, um dann eine WG auf dem Land zu gründen“, erklärt der Sprecher. Das ist nicht jedermanns Sache. Die Bewohner der Alten-WG in Hildesheim etwa sind froh, nicht auf dem Land zu leben. „Für jedes Toastbrot mussten wir in den Bus steigen, und das Ticket dafür war dann teurer als das Brot“, sagt Bewohnerin Kuska über ihre frühere Zeit auf dem Land.

Annette Schneider hingegen träumte genau davon – später mit Rentnern auf dem Land zu leben. Noch vor ihrem 60. Geburtstag schaltete sie eine Anzeige auf einer Internetseite für Senioren-WGs: „Mitbewohner gesucht“. Es dauerte etwas, aber zwei Jahre später hat sie jemanden gefunden, der die gleichen Vorstellungen hat wie sie: ein Haus auf dem Land, nette Gesellschaft, wenn man sie will, Ruhe, wenn man sie braucht. Die beiden zogen von der Stadt in eine kleine Gemeinde mit schönem See. Ihr Haus hat einen Wintergarten und mit zehn Zimmern genug Platz für einen Dritten.

„Wir machen gerade wieder WG-Casting“, sagt die 62-Jährige. Genug Erfahrung haben beide in dem Bereich noch aus den Siebzigern. Die Suche nach Mitbewohnern im Alter gestalte sich aber doch schwieriger als die im Studentenalter: Als Student sei die WG-Zeit absehbar gewesen, die Kompromissbereitschaft höher. Recht ordentlich sollte der Mitbewohner sein, oder zumindest ein bisschen. Ein Notnagel für gebrochene Herzen wollen sie nicht sein. Auch Pflegebedürftige wären hier fehl am Platz. Das Haus ist nicht einmal barrierefrei. „Ob ich einen Treppenlift einbauen könnte – darüber will ich mir noch keine Gedanken machen“, sagt die Chemikerin, die noch berufstätig ist. Mit ihrem Mitbewohner überlegt sie gerade, ob sie sich eine Hängematte kaufen sollten. Für den Garten.

Manche sagen, ich sei verrückt, manche nennen mich Mutter Theresa.
Yvonne Kuska, Senioren-WG-Gründerin

Derzeit werden viele Informationen über Deutschlands Senioren publiziert. Diesen aus unserer Sicht interessanten Artikel haben wir der MAZ vom 19.10.2018 entnommen.

Ihr

Seniorenbeirat Großbeeren